der mohn ist so hoch geworden, dass sie nichts sieht. dann wacht sie auf und denkt, sie will aufwachen. im zimmer riecht es nach ihren moderträumen, sie reißt das fenster auf, es ist immer dunkel, wenn sie aufsteht. sie versinkt im haus, weil es viel zu groß für sie allein ist, sie hält sich nur in ihrem schlafzimmer auf, geht von dort zur küche, zum bad und zurück, aber diese räume gehören nicht ihr, sie kann sie nicht für sich einnehmen. das sind fremde oberflächen, in denen sie in farblosigkeit getaucht spiegelt, von den hergottswinkeln blickt der gekreuzigte auf sie, aus den bilderrahmen lächelt auf berggipfeln, auf familienfeiern der tod, die schubladen klemmen, auf der couch ist ein fleck, von dem sie nicht genau weiß, wodurch er entstanden und wie sie ihn rausbekommen soll. das haus ist ein tag nach dem tod, das haus lauert auch auf ihren abschied, das haus ist kein ort und es ist kein zuhause mehr für sie, aber sie ist hier, um zu sagen: „ich bin zurückgekehrt“ und sie trinkt einen schluck wasser für den morgen. sie ist gekommen, um zur brücke zu gehen.
das rauschen des wassers hat sie schon in den ohren, als sie aufbricht. früher war die brücke ihr zufluchtsort, an dem sie als kind kreidepläne auf den beton gemalt hatte. sie hatte sich vorgestellt, dass sie nicht auf einer alten brücke aus holz stehen würde, sondern auf einer aus marmor, mit gold verziert; dass der alte kastanienbaum neben der brücke eine trauerweide; dass das wasser sich nicht braun, sondern blau spiegeln würde. dass es eine brücke über das meer wäre und sie im ozeanischen aufgehen könnte. dass die felder nicht voll mais, sondern voll mohn wären. dass es eine zauberbrücke wäre, weil das wasser auf der einen seite ruhig im flußbett liegt, sich auf der anderen seite reißerisch wellt.
über das enden der quellen, das austrocknen der bäche und flüsse, hatte sie einen artikel gelesen, darunter war ein stimmungsvolles schwarz-weiß-foto ihrer zauberbrücke abgebildet gewesen. exemplarisch für eine der brücke, von der sich menschen und tiere in den abgrund stürzen. dass es aber trotzdem nicht erklärbar sei, warum sich auch tiere an spezifischen orten vermehrt umbringen würden. dass schon lange die kapazitäten fehlen würden, die leichen zu beseitigen. danach war der text ins esoterische gekippt, hatte versucht, doch eine ursache zu liefern und brücken als „überzeugende metapher des todes“ bezeichnet, als „dünne orte“ charakterisiert, an denen sich diesseits und jenseits so nahe wären, dass sie lebewesen magisch anzogen und ihre todessehnsucht verstärkten.
es war die erinnerung an diesen ort, wegen der sie beschlossen hatte, zurückzukommen. weil sie es mit eigenen augen sehen wollte, weil es eine möglichkeit war, vor der welt zu fliehen, vor den gefühlt zu langen umarmungen, mit denen man sich voneinander verabschiedete. in jeder berührung konnte sie den sand rieseln hören, während sie einen schritt vor den anderen setzt, knirschen die körner zwischen ihren zähnen. eigentlich müsste sie schon die brücke und den baum erkennen, aber der mohn ist so hoch geworden, dass sie nichts sieht, der himmel zieht zu. ihre beine sacken weg, sie hat keinen grund,
dann wacht sie auf und denkt, sie will aufwachen
Dieser Text findet sich in abgewandelter Form in Entwürfe von mir / von uns.